Sisyphos
Kurzprosa
2001
(unveröffentlicht)
Sisyphus
Immer schaut er in die Felsen. Immer tastet er die Wand nach Vorsprüngen und Rissen ab. Er isst wenig und er spricht nicht. Er, der aus dem Tal heraufkam, hat den Weg hierher vergessen. Er, der früh am Morgen kam und bis Mittag bleiben wollte, steht seit Tagen einfach da, schaut in die Felsen, wischt sich die Stirn. Aber immer entdeckt er einen noch nicht gesehenen Brocken, eine Spalte, einen Schatten in der Tiefe, der sofort zu wuchern anfängt, wenn die Sonne sich der andern Talseite zuwendet, und der Nachmittag beginnt, der sich auf die Hänge legt und die Gräser alle zudeckt, wenn es Abend wird und kühl, und die Sonne im Meer versinkt.
Ein Haufen in sich verkeilter, rostiger Werkzeuge zu seinen Füßen, durch den häufigen Einsatz verbogen, aber zum nächsten Einsatz bereit. Seine Kräfte lassen nach, bücken kann er sich fast nicht mehr, auch das Heben wird ihm schwer. Grillen schreien, Äste knacken, und im Gras tanzt der Wind.
Als ihn jemand am Ärmel schüttelt, sagt er, er hätte die Leiter vergessen. Jemand hätte ihm geraten, hierher ohne Stock zu gehen. Ein dummer Rat, wie er jetzt wisse, der ihm als Verletzung einer Vorschrift angelastet werden könnte. Auch der Priester hätte geraten, sich einer Aufgabe zuzuwenden, weiß Gott, es sei viel zu tun noch, er sei hier wie eine Fliege im Bernstein gefangen, er klebe am Felsen. Nein, es sei ihm nicht zu kalt. Nein, er habe keinen Grund umzukehren, keinen Hunger.
Selten kommt hier wer vorbei, vielleicht einmal in drei Tagen ist das Keuchen einer Chira oder ein Rascheln im Gras zu hören, ein sekundenlanges Lauschen, das sich in den Ästen fängt. Dann verstummen alle Vögel und die Grillen zirpen nicht mehr. Dann gerinnen seine Gedanken und es sticht ihn in der Schläfe und er hört die kleine Glocke bis in das Gebirge läuten.
Unten das Tal, ein wogender Wall uralter Stämme, graugrüner Blätter. Gatter sind zu überwinden, Steinmauern und Gestrüpp. Und die Wochen gehen hin, bis sein Schauen dünn und blank und durchsichtig wie blaue Luft ist. Kein Hirte kommt vorbei. Keine Marktfrau sucht nach Minze. Kein Studierter gibt ihm Rat. Niemand nimmt ihn bei der Hand, führt ihn in die Stadt zurück.
Wenn er in die Felsen schaut, denkt er nicht an sein Zuhause. Er will nicht woanders sein. Isst nicht mehr. Spricht nicht mehr. An die Mutter denkt er manchmal, die im Haus die Böden kehrt. Er, der eigentlich zurück will, steht seit Wochen einfach da, schaut in die Felsen, rührt sich nicht. Aber doch entdeckt er immer eine noch nie gesehene Rille, eine Furche, einen Schatten, der aus einer Spalte kriecht, sich auf dem Massiv verbreitert und am Morgen schon zu wachsen und zu wuchern und zu nässen anfängt und den ganzen Berg verschlingt, wenn die Nacht sich in das Bett der Felsen und der Dornen legt, das er frierend mit ihr teilt.
Ein Haufen rostiger, verbogener Werkzeuge zu seinen Füßen. Durch den häufigen Einsatz verdorben, kaum zum nächsten Einsatz bereit. Eine zunehmende Lähmung seines Körper nimmt er wahr. Den Kopf kann er nicht mehr drehen und die Arme kaum noch heben. In den Felsen ein Geriesel, dann ein Flattern und ein Schatten, der steil in die Tiefe ragt.
Wenn ihn nicht die Wand behielte, würde er nicht länger bleiben. Auch der Lehrer hat ihm geraten, sich einer Aufgabe zuzuwenden, und weiß Gott, er ist hier gefangen, hockt hier wie eine Fliege am Fenster, wartet, dass sich etwas öffnet, dass der Fels sich ihm zuneigt, zu ihm spricht, ihn begräbt.
Niemand kommt hier je vorbei. Manchmal aber, scharf und nah, ist ein Rascheln im Gras zu hören und ein angespanntes Lauschen, das sich in den Ästen fängt, das sich in der Stille festsaugt und an seinen Haaren zieht. Dann zerfallen ihm seine Gedanken, und er kommt sich wie ein Sand vor, den der Wind nicht tragen will.
So gehen die Tage hin. Die Luft ist glatt und dünn. Auf dem Meer glänzt das Licht. Möwen stürzen sich ins Wasser. Das Horn der Fähre dröhnt.
Copyright © Stefan Zeiler