Holzers letztes Hemd
ein Roman in Erzählungen und Gedichten
(in Arbeit)
(unveröffentlicht)
Synopsis
Ein junger Mann sitzt auf einer Schotterbank an einem Fluss und beobachtet das Treiben der Möven und der Badenden. Anderntags ergeht er sich in einer menschenleeren Heide, wo ihn ein Hagelschauer überrascht. Auf einer Wanderung zu einer Berghütte verliert er den Weg, gerät in einen dichten Nebel und stürzt beinahe ab. Unterdessen – oder außerhalb von Raum und Zeit – trifft in einem Auwald ein Totengericht zusammen und diskutiert den descensus christi ad inferos, ohne sich zu einigen..
Kapitel: Amnion (Arbeitstitel)
Schotter, in die Stadt geschoben von kaltem grünem Gebirgswasser. Ein weißer Fladen lose gebacken aus Schädeldecken, quarzädrigen Fäusten, marmornen Kniescheiben, kalkrunden Fersen, grünpelzig an den Rändern nass fransend, rosa schimmernd im Flusswasser. Zungenbelag einer halbtot daliegenden, nackten Zivilisation, Insel im Frühlingsschweißrinnsal der Berge.
Hier endlich im Ursprungstal, denkt Holzer, Wiederaufnahme der Kräfte nur möglich im Urzeittal, hier im Bett der Winde liegen, unter Wolkendecken dösen, Wiederherstellung für Stunden der Gesundheit und Bejahung endlich der Umgebung, Auffrischung der Lungenflügel und Begrünung der Gehirnhügel, nur von ferne spitze Töne, die ins Ruhepolster stechen, Schrillgesang der Sirenen, die in Venen Nahrung pressen, eine nach Leben haschende Hast, die das Ruhen uns verbietet und das Sinnen unterbindet, hier endlich die Knie umschlingen und besitzlos wie das Schilf sich dem warmen Wind ergeben, sich zur Gänze hinstrecken und auf Steinen einschlafen. Uferschlamm leckende, schmatzende Wellen benetzen die Steine, umspülen die Augen, Gipfelmilch, Mund am Euter – – –
Mein Mund spricht nicht, ist versiegelt, denkt Holzer, noch verschlossen, weil hier dem Naturgeheimnis ganz ergeben und verpflichtet. Vogelschwärme fliegen hoch, Straßen schwitzen schnelle Schritte, Brücken schicken das Getrippel ins erhitzte Herz der Stadt, wo die Uhr sich um den Turm schwingt und das Geld auf Händen geht. Köpfe rollen Treppen empor. Ich ein Körper, kaum gefühlt, von nichts als einem Pochen erfüllt. Wer den Wurm im Apfel sucht, ist der Wahrheit auf der Spur. Angestochen bin ich, muss die Gärung kontrollieren, meinen Schlauchinhalt schwenken und sehr sorgfältig behüten. Andere sind in der Bahn, ich will fernab des Gewühles meinen Witterungen folgen, denkt Holzer irrtumsfroh.
(…)
Immer nur hat Holzer dieses Wuchern der Natur im Auge und besonders den Zerfall: das Auftrennen aller Stoffe. Die geschwärzte Wirklichkeit entpuppt sich als ein Richtungswunsch, als ein Herbeiwinken von Regeln, also Wettermacherei. Hagel, Eis und Wüstenwind, auf ins Sternenlichtgeplänkel, ins Scharmützel der Kontraste! Auf die Sonne folgt der Regen, aus der Rebe wird der Saft. Jeder kann so ein Prophet sein, der die ganze Wahrheit fasst. Jeder Pilz hat seine Mitte, mithin schützt ihn auch ein Schirm. Sich an e i n e Stelle begeben immer auch ein Verhängen der Welt. Oder wild in den Stoffen herumschlagen und sich an der Wut betrinken, dass man niemals König ist. Doch die Tat, die nötig wäre und die nie einer begeht: Suche einer Schnecke nach dem Weg. Doch wofür? Auftrocknen am Asphalt oder ertrinken im rettenden Regen, je nachdem, der Lohn ist sicher. Wässriges Glück. Oder brennende Gier. Unglücklich ist ein jeder, und doch hat ein jeder Glück.
(…)
Wir, denkt Holzer, was für ein Geburtenaufwand über dieses Land, eingetreten in ein Jenseits noch nicht, das uns von der anderen Seite der Einfälle und der Vegetationen ein zartes Grollen entgegenrollt, entscheiden uns immer für die Mitte, für ein Jetzt, nie für ein Dann, das in das haltlose Klatschen der Hände Pausen schwemmen würde wie ein Windstoß Töne eines in der Ferne spielenden Orchesters.
Ein Schritt zurück, ein schläfriger Augenblick, lässt man sich gehen, fällt man zurück in hässliche Nacht, in graues Geburtswasser, denkt Holzer. Ein Erkaltenlassen des Getriebes dürfen wir uns nicht erlauben. Was in der Ferne ist, ziehen wir an, holen das weit Entfernte heran. Nein, ein Abstand soll sich nicht ergeben. Dicht und dichter schließen und knüpfen die Nachkommen an unsere Vorhaben an, und wir sagen es voraus: Alles wird glücken, alle Zusagen werden gehalten, alle Wünsche werden wahr: Jungfernfahrten, Jubiläen, Brücken über das Missglückte, kein Abgrund frisst uns mehr – – – Jaulend und im Sturz uns drehend, aus der Ohnmacht jäh erwachend, bellend wollen wir uns erheben. Lasst uns wüst auf die Verwünschungen und Wetterwidrigkeiten trinken, die unsere Gesichter schwärzen, trinken wir auf unser Morgen! Holzer fühlt jetzt eine Kraft, als ob eine gute warme Suppe seinen Magen füllte. Hochgehoben fühlt er sich. Möwen stürzen von den Klippen und die Gischt erreicht sie nicht.
(…)
Kapitel: Waldwanderung (Arbeitstitel)
(…)
Nach Abern dann war Holzer mit dem Mittagsbus gefahren, ohne was zum Trinken und zum Essen eingekauft zu haben. Vor der Post am Hauptplatz war er ausgestiegen und hatte nach Schildern Ausschau gehalten. Das Tal bog hier nach Süden ab, die Bäume am Platz standen im Licht, das zwischen den Hängen herauf schoss und blendete. So war er, schon hungrig, aufs Geratewohl erst in den Ort und auf das Denkmal zugegangen. Abstand wahrend zu den Häusern, die den alten Platz umstanden, bot sich eine Mitte an, ein Hain, der Schatten hoher Bäume. Ein Brunnen, aber ohne Wasser, dachte Holzer, und doch eine Quelle, jedes Ehrenmal ein Rinnsal ja und Labsal der Erinnerung. Holzer wollte gern auch immer über solche Schwellen treten, jeder Ort hat einen Eingang, ein Portal, durch das man schreitet, das einem die Gegend aufschließt, Menschennamen, die verlässlich für die Wirklichkeit des Ortes, sein begehbares Gelände bürgen – – –
Stufen führten zu der Stele hoch und unter Lindenbäumen – die sich Holzer schon als Kind als eine lichte, warme Mitte, als das Herz des Universums dachte – las er still, wie einen Brief, der nur Alltägliches berichtet, die Liste der Verstorbenen, las die Namen, männlich alle, doch der Umstand ihres Todes war bei keinem angegeben. Seltsam, dass es mich nicht drängt ihn zu erfahren, denkt Holzer. Und auch wieder nicht seltsam, denn wenn nicht gefallen als Soldaten, in der Schlacht im Krieg, so doch wohl herausgerissen aus dem Leben anderswie, hineingestoßen in einen Graben, hingerichtet im Gebirge von Lawinen, von Bäumen gefällt, von Brocken erschlagen, gefallen also in jedem Fall, wahrscheinlich alle von gleicher Höhe in gleiche Tiefe zu gleicher Stunde, und hier, als folgten sie alle dem gleichen Ziel auf gleicher Reise, aufgelistet, eingekerbt in Stein in diesen Obelisk, der durch das Laub der Linde hoch in einen lichten, weiten Himmel weist, als ob sie direkt aus dem Himmel auf die Erde gefallen wären, herunter gestoßen von schwankenden Wolken, heraus geschüttelt aus schaumigem Licht, ein Menschensturz, wie er als eine nur von einer himmlischen Regierung und mit äußerstem Bedacht und in Erwägung aller Leiden und Beschwernissen ergriffenen Maßnahme vorkommen mag, denkt Holzer, dessen Name, als drittletzter, auch auf der Liste stand.
(…)
Die Wege nach oben sind steil und steinig und von Schatten überwölbt. Doch gegenläufig plätschern die Bäche und tragen die nasse Schuldenlast ab, denn die Natur besteht auf beständigem Kostenausgleich, geteilter Last. Die Tiefe macht das Wasser schwarz, die Höhe weiß den Wasserfall, und rot der Wüstensand den Schnee. Dem Gegenlicht hat immer eine Gegenfinsternis zu folgen. Wenn der eine Felsen friert, wärmt den anderen die Sonne. Um Wasser bittet das Blatt die Wurzel, doch bittet um Halt im Sturm sie der Stamm – – – Holzer stapfte mutig voran. Noch war die Mitte des Weges fern. Noch hatte Holzer zu sprechen wie einer, der seine Stimme nicht senkt und nicht darauf achtet, dass weithin zu hören ist, was er sagt. Noch gab zu denken, was undenkbar war.
Den Geist ernährt nicht ein ferner Dunst, sondern was nah, zum Greifen nah ist. Wie der Magen, der verbrennt, was ihm der Mund durchs Schlundrohr schiebt, so hat auch das Auge Hunger und hält Ausschau nach Faszikeln, die der Cortex nachverdaut. Rastlos rattern die Pupillen über kahle Fichtenstämme, während die Nase nach Fäden hascht, die das Harz an die Rinde binden. Weiße Engelflügel am Wegrand verströmen den Duft verruchter Süße. Wild zerknüllte Taschentücher im Gebüsch verstören die Füchse. Häufig zu Boden blickt der Wanderer, der sich das Sammeln von Pilzen befohlen hat. Wenig hilfreich ist sein Wissen, wenn er im Gehen abwägt die Kappen. Erst beim Erkunden der Unterseiten wird die Kategorie offenbar.
Der Koch erkennt in den Flanken der Landschaft die fruchtbaren Böden, Verstecke der Nahrung, sein Auge ist so groß wie der See, der blind das Gewimmel der Fische birgt. Wer, wenn nicht er, dringt ein ins Geschaffene, wer, wenn nicht er, kennt den Geschmack, bestimmt das Gewicht, weiß Maß und Verhältnis, er wählt die Zutaten, ordnet die Mischung an, schürt das Feuer, steuert das gar Werden. Wer, wenn nicht er, scheidet Ungenießbares von Genießbarem, wer, wenn nicht er, macht Giftiges essbar, Fettes verdaulich, Bitteres süß, Schweres bekömmlich. Wer, wenn nicht er, bereitet das Mahl. Er hat den Schlüssel zur Speisekammer. Noch ist die Kammer nicht aufgebrochen, aber die Vorräte gehen zu Ende.
(…)
Eine seltene Vergrößerung – Verkalkung – der Amygdala hatte bei Holzer, wenn er nichts aß, Selbstwahrnehmungslücken zur Folge, sodass er jetzt, obwohl ihm kalt war, nicht auf den Gedanken kam, den Wollpullover anzuziehen, den er im Rucksack zuunterst verstaut hatte. Als schäumte ein medizinisches Pulver auf, rückte der Nebel beständig und schnell nun vor bis zur Baumgrenze und umfing auch die felsigen Anhöhen, und ein scharfer Wind erschwerte das Offenhalten der Augen. Aber wäre bei schönerem Wetter der Wegverlauf zu erahnen gewesen? Markierungen waren hier keine mehr angebracht, und im Streufeld des Gerölls, das mit fetter dunkler Erde und niedrigen Gräsern befestigt war, waren so manche Rinnen und Furchen als Wegverläufe und Stufen im Gestein als Tritte, als ein Aufstieg misszudeuten. Holzer hatte nun Gelegenheit ohne Zuhilfenahme der Karte und ohne die Spur einer Erinnerung an das Gelände das Blockhaus zu finden. War er am Ziel? Von hier aus wäre die Hütte jetzt ohnehin nicht mehr in Sicht gewesen, weil Holzer eine Rinne in der Bergflanke queren musste, ein Geröllfeld ohne Wegspur, sodass er nun ganz der besonderen Führung jener okkulten Mächte bedurfte, die über die Schritte der Hilflosen wachen und sich mit Geduld auch über so heillos verschlungene Irrwege beugen, wie sie sein Gehen seit je her erfunden hat, und aus dem finster verhangenen Himmel, wie aus einem zu weiten Gewand, streckte sich ihm eine Hand entgegen, die auch leicht zu ergreifen war, eine letzte gedankliche Zuflucht, denn Holzer hatte, das war gewiss, den Weg verloren seit langem schon.
Kapitel: Threnos (Arbeitstitel)
Threnos (Arbeitstitel)
An einem Tag, an dem die drei hellsten, erdnahesten Planeten noch bis in die Mittagsstunden hinein als zitternde Fünkchen auf luftblauem Grund rund um die Sonne im Dreieck standen, verirrte sich Holzer in eine Heide, die von kleinen Gruben wie von Gräbern übersät war und deren staubige, baumlose Weite sich bis an den schwarzen Streifen Wald am Horizont erstreckte. Ein feuchter Ostwind fiel ins Land, umstrich es fächelnd mit seinem Gewand, das über den flacheren Mulden sich kräuselte und an den mageren Grasnarben rieb. In Grüppchen wispernd, mit raschelnden Röcken, rosaroten, hoch gerafften Blütenrüschen ausstaffiert, teilten sich einträchtig einige tausend Erikabüschel den trockenen Boden, der von keinem Pflug zerschnitten, von keinen Wegen durchzogen war. Holzer stand vor Verwunderung stumm, dann rannte er schreiend über die Wälle und taumelte in die Senken hinein, brach in das Wabern der Warmluftwirbel, stieß in das Schillern der Streulichtkegel, zerriss die Gespinste der Spinnengewebe, rauschte mit flügeloffenen Armen in wellig sich wandelnde Horizonte, die er wie Zielbänder jubelnd durchlief, Zittergras zog ratlos vor dem Rasenden seine Rispen zurück, Federgräser und trockene Blauhalme, die sich dünn übers Besenkraut bogen, hängten sich an ihn wie arglose Finger mit zarten Betastungen, denn in den Gruben waren sie länger und streiften die schwingenden Hände Holzers, der den Parcours bald wie ein Sieger in wellenlinigem Lauf dahinflog, während sein Auge, in schwebendem Takt, fallend und steigend, einmal dahin, dann dorthin gerichtet, sich von nahen wie von fernen Landschaftspunkten führen ließ, um zwischendurch auf den offenen Sandböden wie ein Hase oder ein Fuchs, der Schüsse hört, dahinzurasen.
Es war beschwerlich, sich so zu bewegen, und es lag es nahe, nach einer Weile in eine der Gruben sich fallen zu lassen, sich zu erholen vom schwindlig gewordenen, schweifenden Blick, sich ein Blindsein auszumalen, im Liegen etwas herauf zu holen aus dem Untergeschoß der Gedanken, hineinzuleuchten in die Stollen und ausgesteiften Befestigungen, die das Ich sich baut und zimmert, mit wohligem Zagen hinunterzusteigen in die verminten Gewölbe der Kindheit, in die Kasematten der Seele, die, von feindlichen Mächten belagert, sich gegen Ansturm und Unterminierung und Übernahme versichern muss.
Ein Spuk, so dachte Holzer, ist kein Ungehorsam der Atome, die Materie befolgt verlässlich die Gesetze, die sie erlässt. Frei zu sein, eine Pause zu machen, sich hinzulegen wie hier an dem Ort, wo weit und breit kein Haus, kein Weg ist, diese Wahl kann ich nicht treffen, ein Naturgesetz bestimmt an meiner statt, wohin die Reise geht. Aber ist nicht ein Wille im Kraut, im Staub schon, der sich kräuselt, zu sehen? Ein Selbst zu haben, frei zu sein, nicht in ein Gesetz gezwungen, in keine Order und Regel gepresst, ein eigenes Gewicht zu haben, ein Gesicht, ein Ich dazu, das mein Erworbenes erhaben und mein Ererbtes unkenntlich macht. Ich erbe, dachte Holzer, Güter, die ich nicht für gut befinde, Züge, die ich nicht verzeihen, Eigenschaften, die ich nicht mein Eigen nennen kann noch will. Ohne Vermögen mittellos dazustehen und diese Heide, die Welt überhaupt, die ganze weite, als meine anzusehen, als eine blanke, schriftlose Tafel, ein Gesetz, das noch zu schreiben, zu befolgen ich ja frei bin, auch es wieder aufzuheben, dieses Tasten auszuhalten und den Zufall wie den Fehler in das Leben einzuweben, das war Holzers Gedankengalopp, dem er nunmehr freien Lauf ließ und indem er sich erlaubte, in Gedanken fortzufliegen, sich vom Erdball loszureißen, ein Umkreisen selbst zu wagen, selber ein Gestirn und nicht ein klammernder Trabant zu sein, griff ein Windstoß in sein Haar und ordnete einige Strähnen neu. Holzer streckte die Finger ins Gras und fühlte die Kraft, die Feinheit der Halme. Eigenmächtig ist das Ich, das Du, das Blut in mir, ist folgsam, es gehorcht und bricht nie das Gelübde, das es willig spricht. So folgerte Holzer und schloss die Augen und weidete sich an den feinen Rhythmen, die ihm das Gras in die Finger legte, während seine rechte Hand eine Nelke blind umschloss: Ungehorsam ist, wer lenkt, ein Lenker ist, wer Wege denkt. Der Geist ist frei, der Meister im Recht, das Scheit, das er entzündet, Knecht, es brennt nicht, weil es will, es muss – – –
Schwer zu denkende, unklare Umstände, die zu enträtseln er keine Not hatte, die er aber als Hemmnisse einer beständigen Freude und Freiheit, einer sich nähernden und doch nie aus der Nähe sich zeigenden Fülle und Feinheit im Denken deutete, galten Holzers grobem, weil naivem Harmoniebegriff als wesentliche Dissonanzen. Dass ich wandern muss, beweist ja, dass ich den Besitz nicht schätze, nach dem sich die Wurzel streckt. Holzer ließ die Blüte los, weil ein luftiges Gewusel und Gewese seine Finger streifte. Eine Biene war ins Landungsfeld des roten Perianths gestürzt und kroch in den gekippten Kelch, um ihn gierig auszuschlürfen. Ob der Flug der Bienen, wie es scheint, die Frucht des Fleißes oder der Fleiß nur ein Mangel an Freiheit, und kein Werk, sondern Beiwerk sei, fragte sich Holzer und lauschte dem Summen, das während der Mahlzeit der Biene verstummt war, dann aber wieder den Orbit seines Gedankens gravitätisch begleitete. Da die Frage selbst aber mehr ein Werk der Muße als der wachen Überlegung war – Holzer hasste alle Werke, die er nicht schnell, wie im Schlaf, vollbrachte – , nahm er sie mit als willkommene Dreingabe in sein Ermüden, in seine Träume. Wäre die Kunst des verlangsamten Denkens erlernbar, wollte er sie hier auf dem Friedhof der absichtsvollen Gedanken üben. Fühler ertasteten seinen Hemdkragen, dann seinen Nacken, dann sein Ohr. Bald sank er in einen kalten, höhlenartig verzweigten Schlaf, Gänge führten weiter in ein unwohnliches Gemäuer, das zudem ein Kerker war. Zelle reihte sich an Zelle, doch die Zellen waren leer, alle Türen standen offen. Eine Zelle, in dem Gang, den Holzer bis ans Ende sich zu gehen zwang, die allerletzte, deren Fenster unvergittert einen Blick aufs Meer erlaubte, war als einzige belegt. Darin saß ein Mann mit grauer Haut auf einem Tisch und starrte nackt auf eine Wand, an der sich riesige Falter sammelten. Ihre Flügel waren geöffnet und wie Teppiche kurdischer Webart in roten, braunen, sandigen hellen und schmutzigen blauen Tönen gemustert. Die Falter klebten am bröckelnden Putz, als hätte ein Herbstwind steigende Drachen zu einer Herde zusammengetrieben, manchmal fiel ein Tier zu Boden, wenn es im Gedränge um den besten Platz den Halt verlor, hässliche Schwärmer mit pelzigen Beinen drehten sich wie berauscht im Kreis und schlugen die Flügel auf schwächere nieder, fransige Motten klappten sie zappelnd auf und zu wie in einer Erregung, und die staubig pigmentierten, von Kämpfen zerschlissenen Ornamente zeigten eine wunderliche Ähnlichkeit mit Gegenständen, sahen aus wie Kerzenständer, andere wie Gartenwerkzeug, Schlüssel, Anker oder Ketten, wieder andere wie Schuhe, Brotmesser oder Boote, die ein Meeressturm verbogen oder in einzelne Planken zerlegt hat – – –
Leben wird, wer sich nicht wehrt,
Loben wir, wen keiner ehrt – – –
So hallte es durch die verschlungenen Gänge, ein Gesang, der aus dem Innersten der Steine herzurühren schien. Teigig weiche Teerklumpen hingen von der Fensterbank und ein Geruch nach Tang und Salz schwelte durch den Festungsbau – – –
Leben wird, wer nicht begehrt,
leiden, wer die Wahrheit lehrt – – –
Da löste sich der graue Mann aus seiner starren Würfelhaltung, drehte sich nach Holzer um und legte seinen dürren grauen Arm um seine Schulter. Was uns im Jenseits erwarten würde, fragte er Holzer mit freundlicher Stimme. Und Holzer sagte, tief gerührt, fast beglückt durch die Umarmung, aber vom Geruch des Mannes, der nach Salz roch, abgestoßen, das Gleiche wie hier, und er ergänzte, weil er die Frage kurz und bündig, aber nicht brüsk beantworten wollte, nur seien die Voraussetzungen – sagte er: dort? – sicherlich andere. Lange blickte ihn der Mann mit milden hellen Augen an, und ein feiner Zug um seinen Mund schien etwas abzuwägen. Eine Prüfung, dachte Holzer. Und er wagte nicht zu denken, dass er sie womöglich nicht, oder nur mit Weh und Ach bestanden haben könnte.
Anscheinend aber durch die Antwort nachdenklich geworden, fiel der Mann nun in ein regungsloses Brüten oder sich Besinnen. Schweigend sahen sie aufs Meer. Rau wie ungekämmter Bast, glänzend und geschmeidig aber auch wie rohe Seide griff die seelenlose See um die sinkende Insel, deren Klippen sich wie Finger in Verzückung nach der Ferne streckten. Dass der Arm des Mannes weiterhin auf seiner Schulter lag, hatte Holzer hinzunehmen, ob mit Gleichmut oder Neugier oder Unbehagen, lag an ihm. Wie ein Joch aber lag die Antwort, die er sich erdreistet hatte, dem Verurteilten zu geben und die er zutiefst bereute, weil sie eitel, nichtssagend und belehrend war, in seinem Nacken. Nun, da ihn der steinschwere Arm wie ein Urteil drückte, und er keine Aussicht hatte, sich ihm zu entwinden, spürte er, dass eine Kruste, eine dicke graue Salzschicht, wie ein Schorf den Mann bedeckte und ihn unbeweglich und darum auch unverweslich machte. Holzer hätte gern die Frage nach dem Jenseits noch vertieft und auch seinen unbestimmten Satz sofort zurückgenommen, hätte sich der Mann mit einem kurzen Blick an ihn gewandt, doch dessen Augen schienen in der Ferne angebunden, die Pupillen wie verankert in der Weite und der Leere, die unangefochten das Meer und den vage mit Wolkenschleiern verhangenen, hanfgrauen Himmel beherrschten. Nichts war zu bereden weiter,
kein Bedrängnis zu begreifen,
kein Entsetzen auszustehen.
Schnäbel knackten schwarze Schalen, stocherten nach leichter Beute, Poller kragten aus der Gischt, Krabben krochen durch den Sand oder sanken in ihm ein, leckend stieg die Flut an Land, hob verfaulte Planken, Algen, Korkschwimmer aus dem Schlick, heftiger ans Ufer drängend spülte nun der Wellengang auch Quallen oder Kleider oder Wrackteile an den Strand, Dosen, Flaschen, leere Fässer rollten mit der Brandung an, kräftiger dröhnte jetzt auch der Gesang, unerträglich schrill im Ton, unfasslich hohl im Sinn – – –
Die Not sagt, ich bin nicht im Lot,
Das Brot sagt, ich bin noch nicht tot – – –
noch nicht tot – – –
Ein unstetes Sausen, ein Sirren und Brummen erfüllte die Luft und gab Holzer den Rat, aufzustehen, weiterzugehen: War die Welt ein schöner Ort, war sie zum Wandern auch geeignet. Holzer stand auf und ging müde weiter.
(…)
Kapitel: Benthos (Arbeitstitel)
Audiodatei der Rauminstallation “ Keller | Benthos“, Roßfeld bei Bad Rodach 7. – 15. 10. 2023. Die Installation war Teil der zweiteiligen Text-Inszenierung „Klage | Threnos – Keller | Benthos“ und wurde im Rahmen des Kunst-Projekts „4 | Kant | Kunst“ zur Aufführung gebracht. Zu hören ist der Anfang sowie Ausschnitte des Kapitels (ca. ein Zehntel des Gesamtumfangs).