Der Gast
Kurzgeschichte
2013
(unveröffentlicht)

Synopsis
Ein Reisender, der ein Zimmer in einer Pension gebucht hat, wird bei seinem Eintreffen vom Hund der Pension gebissen.
Der Gast
Keine Glocke schlug, als der Gast um ein Uhr Mittag den alten, noch mit Bruchsteinen gepflasterten Verkehrsweg hochstieg und den Schattenplatz erreichte, wo das steile und zuletzt noch uneinsehbar engkurvige Sträßlein in einer Kehrschleife sein vorläufiges Ende fand. Das flimmernde, von einer hohen Laubkrone gesiebte Licht ließ den Gast nicht gleich erkennen, dass dem riesenhaften Baum, der dem Platz die Mitte gab, ein Schild mit der Aufschrift Pension *** um den Stamm geschnürt war. Im Flirren der Gebüsche ringsherum und des wilden Weins, dessen ungezähmtes Wuchern einen Maschenzaun so nieder bog, dass dahinter ein Gebäude – die Pension? – zu ahnen war, blieb zunächst unklar, wo das Haus den Eingang hatte, und so befand der Gast, dass ein Rundgang durch die nähere Umgebung das sei, was man hier von einem Ankömmling erwartete.
Und weil die Sonne warm und billig auf die Landschaft schien und er etwas Zeit hatte, stellte er den Koffer gleich neben der Platane ab, die den naiven Schriftzug ihres Schildes gern ertrug, und ging erst einmal hinauf zu einer kleinen Kirche, um von dort hinunter in den Obstgarten zu schauen, der, angrenzend an die Kirche, offensichtlich Teil der alten Pfarranlage war und zusammen mit dem jetzt als Pension genutzten Pfarrhaus und weiteren Gebäuden am Fuße des Hügels der gefälligste und älteste Teil dieser Ortschaft war. Die Kirche war mit heller Farbe frisch getüncht, doch das Tor fest verschlossen, der Garten aber über eine Wirtschaftsrampe zugänglich, und so nahm der Gast den Umweg durch den Garten Richtung Haus. Die silbrig verwitterten Granitumfassungen der Beete, die Steinmauer des Gartens und die entlang der Mauer aufgereihten Denkmale, deren ruinöse Säulen, Büsten und Inschriften weder Stand noch ganze Namen der Verstorbenen verrieten, gaben dem Garten den Anschein eines Lustgartens, einer wie absichtlich verwilderten Erholungsstätte, in der die landwirtschaftlichen Aspekte nur den Rahmen für besinnliche Momente, für heitere Spiele oder ernsthafte Gespräche bilden. Hochstielige Rosen paradierten in den Beeten und mischten in die graugrünen Laubwolken der Obstbäume, in die braunen Erdstreifen und in die aschgrauen Verschläge der Komposthaufen eine fein abgestimmte Prise frischer Sinnlichkeit, die dem Gast einen Kranz erotisierender Gedanken flocht und für Sekunden das berauschende Gefühl unbeschwerter Lebenslust, reinen Glücks bescherte.
Über diesen Umweg, der ihm nicht verboten schien und den er als Vorgeschmack seines Aufenthaltes still genoss, kam der Gast zur Pension und ging beherzt auf eine halb offene Türe zu, neben welcher Harken, Rechen sowie Stangen an die Wand gelehnt und Arbeitskleidung aufgehängt war, und die so als Hintereingang der Pension kenntlich war. Als der Gast einen lauten, aber wohlgemuten Gruß in das Innere des Hauses schickte und am gerillten gelben Glaseinsatz der Tür klopfte, kam als Antwort nichts als Stille aus dem fensterlosen Flur, dessen lichte Breite sich mit zunehmender Länge in der Enge einer ungewissen Dunkelheit verlor.
Der Gast hatte sich beizeiten, schon vor Wochen, angemeldet, und vom Wirt ein großes lichtes Zimmer zugesagt bekommen und das zu einem Preis, das ein dunkles schmales unterm Dach gekostet haben würde. Der Wirt hatte den Rabatt mit einem Scherz über das Herkunftsland des Gastes zu begründen sich herausgenommen und gelacht. Der Gast hatte daraufhin nur vielsagend den Mund verzogen, was dem Wirt am Telefon naturgemäß entgehen musste, wohingegen dessen Miene als eine schalkhafte für den Gast einfach zu erraten gewesen war.
Es gab in der Vorstadt kaum Verkehr um diese Tageszeit. Aus dem Zug war als einziger der Gast ausgestiegen und hatte auf dem kleinen Bahnhof keinen Menschen angetroffen, den er nach dem Weg zur Pension hätte fragen können. Eine junge Frau, die ihren Kinderwagen vor dem Bahngleis hatte stehen lassen, um ein Stück zurückzulaufen, hatte ihm die Richtung dann bereitwillig beschrieben und das Kind, das heftig schrie, mit dem bunten Gegenstand – einer Rassel, die das Kind im Zorn von sich geworfen haben musste – zu beruhigen versucht.
Nur eine Stofftasche trug der Gast bei sich (der Koffer war gut aufgehoben in der Obhut der Platane!), hielt sie, eine Antwort aus dem Hause abwartend, vor die Knie, ließ sie baumeln, dann schwang er sie entschlossen auf den Rücken und trat ein, als ihm aus dem Flur ein schwarzer Hund entgegen tappte. Missmutig humpelnd, knurrend, dann auf einmal aber bellend, und ohne dem Gast eine Zeitspanne zur Flucht oder Gegenwehr einzuräumen, warf er sich mit der ganzen Schwere seines Körpers auf ihn und biss ihm unterhalb der Hoden in den Oberschenkel, so dass der Baumwollstoff der Hose, dann die Haut und unter ihr der Muskelstrang mehrere linsengroße Löcher eingestanzt bekamen, wobei der Schaden an der Hose nicht ins Auge fiel. Damit aber nicht genug, trieb der Hund, als er merkte, dass der Gast zwar zurückwich, aber nicht das Weite suchte, ihn mit höllenhaftem Knurren, dazu widerlich gefletschten Zähnen, bis zurück vor die Haustür, was den Gast fast noch mehr wie der schmerzhafte Biss als beschämendes, unwürdiges Schauspiel vor den Kopf stoßen und eingedenk der schönen Eindrücke vom Garten – der Bäume, der Beete, der Rosen! – völlig ratlos machen musste.
(…)
Copyright © Stefan Zeiler