Meine Mutter und meine Brüder
Kurzprosa
2009
(unveröffentlicht)
Meine Mutter und meine Brüder
…ich, der ich verschwiegen bin, die Menschen nicht kenne, das Licht des Tages meide, und auf mein Äußeres nicht achte, ich, dessen Mutter am Rand ihres Bettes sitzt in einem dunklen Zimmer und denkt, ich, dessen Mutter nicht schläft in der Nacht, sitzt, denkt, im dunklen Zimmer am Bettrand sitzt und an vergangene Tage denkt, ich, dessen Mutter im dunklen Zimmer die Augen schließt, den Kopf in den Nacken legt, sitzt, den Kopf wiegt, ich, dessen Mutter sich hinlegt im dunklen Zimmer, die Augen geschlossen am Rücken im Bett liegt, die Augen öffnet, nicht schläft in der Nacht, ich, dessen Mutter in einem Zimmer mit zugezogenen Vorhängen schläft am Tag, am Rand ihres Bettes sitzt, den Kopf wiegt, auf das Bett sich legt und schläft und die Augen öffnet am Abend, ich, dessen Mutter hinter einem nie erleuchteten Fenster sitzt auf ihrem Bett an finsteren Tagen, die Augen geschlossen, den Blick in ihr gewesenes und in ihr nicht gewesenes Leben gerichtet, die Augen öffnet und den Blick richtet auf die dunkler werdende Wand, (…)
(…)
…wir, deren Mutter das Leben ausrichtet auf Weite in ihren Gedanken in ihrem Zimmer, es absucht nach Entwicklung und Auffächerung, einer Ankunft, es ausschneidet, einfügt in eine größere, nachhaltigere Erinnerung, das Gewesene vor der weißen Durchleuchtung der Vorhänge einfügt in eine andere, pflanzenumwucherte Fortführung, über dem umgeschnittenen Baum vor dem Fenster, es benennt, auf der sonnenbeschienenen Schnittfläche des Baumstumpfes vor ihrem Fenster es auflöst in nicht Gewesenes, nicht ihr Gewesenes und es verbrennt, wir, deren Mutter Sonneneinfügungen einzeichnet in die zerschnittenen, abgeschnittenen Teile ihres so und nicht anders gewesenen Lebens, die im Zimmer hinter dem Vorhang ausmisst ihr Leben, was es war und was es nicht war und es versteckt hält vor uns und der Welt, wir, deren Mutter uns verringert, von einem zum anderen uns verkleinert und verstopft hat mit Worten und Taten, mit Abwesenheit und mit Anwesenheit uns verstoßen hat, aus ihrem Leben ausgeschnitten hat, sich ausgeschnitten hat aus der Welt, (…)
(…)
wir, deren Mutter, eingeschlossen in ihrem Satz, uneinsehbar für andere Menschen wach liegt die ganze Nacht in ihrem Zimmer ohne Licht, ihr Leben, ihr ganzes, gewesenes, mit einem einzigen Satz, den sie kennt und den sie so und nicht anders kennt, zudeckt, zuschließt, ihr Leben verschließt, mit einem Tag und Nacht an ihrem Mund hängenden Satz abschließt, absperrt in der Dunkelheit, ihr Leben im milchigen Licht des Morgens in der Küche einfängt und ertränkt im Tee, es löscht, in einem Satz es flüsternd löscht, das Leben, alles Gewesene und alles nicht Gewesene in ihrem Leben in einen für uns unhörbar gesagten Satz einsperrt und auslöscht, wir, deren Mutter schläft bei Tag und wach ist in der Nacht und deren Leben, das wir nicht kennen, in den einen Satz gesperrt ist, den wir kennen, der uns tausend Mal gesagt hat, was er uns zu sagen hatte, der uns verschüttet und entzweit hat und uns endlich zum Schweigen gebracht hat und uns von zuhause fort und auseinander gerissen hat und uns zerstreut hat in die ganze Welt, wir, die wir uns verachten, uns nicht kennen und in leeren weißen Kontinenten leben jetzt, hinausgeworfen aus dem Frühstücksgeflüster unserer Mutter, ausgestoßen aus dem Honiggeruch ihrer Küche, aus dem milchigen Licht ihres Zimmers in die Klarheit, in die Entzweiung, in das Schweigen hineingeworfen, von ihrem Satz verjagt, verstoßen und in die Welt gesetzt, ausgesetzt in das grelle Licht der Verschiedenheit, des Anderssein, jeder für sich hin gewürfelt in ein anderes Geviert, in die Dunkelheit einer Verblendung, jeder für sich allein und fremd in seinem Land, das ihn als Gestrandeten und als Schweigenden mit Verachtung und Schweigen straft, jeder schweigend in sein Land eingesunken und von ihm abgestoßen zugleich, in seinem Kontinent der Fremde, Unwillkommene, niedergeworfen vom Satz der Mutter, der Erniedrigte und der Entstellte, sich aufrichtend und verachtend die Last des anderen, ein kurzer Satz mit langer Wirkung, Bodensatz unseres Lebens…
(…)
…ich, der ich das Dunkel liebe, seinen Mangel an Reflexen, ich, der ich im Schatten einer aufziehenden Wolke, im Rauch eines Laubfeuers mich aufrichte, im Schweigen, ich, der ich das Licht des Tages zerreißen und versinken will im Einbruch der Nacht, ich, der Jüngste, der Gekränkteste, der ich das Fenster öffne, die Tür, der Ausgeschlossene, ich, der Kleinste, der ich in das Zimmer gehe, der Betrogenste von allen, der von seinen Brüdern getreten und von den Sätzen der sprechenden Menschen umgeworfen und zum Schweigen gebracht worden ist und kein Sprechen verstand, ich, dessen Mutter ihren Satz hinflüstert in den Aufprall eines Geschirrs, in das schwarze Aufziehen der Wolken, ich, der Anfällige, der Verschüttete, der ich hinaustrete in einen Rauch, in eine Ausweitung, einatme die Kälte der Stämme, ich, der ich eintrete in einen Rauch, der spricht, dessen Sprechen mein Sprechen ist, der mir die Luft nimmt, die mich umstellt, der das Schweigen ist, das mich beatmet hat in den Jahren der Flucht und der Verrohung, ich, der ich roh bin, meine Brüder verachte, ich, der ich mein Gesicht vor dem Gesicht meiner Brüder verziehe und hintrete in das Gesicht der Welt, ich, dessen Mutter ihren Satz sagt, hinflüstert in das Licht, in die Milch, in den Tee, schluckt, schlürft mit dem im Tee aufgeschmolzenen Honig, schwarzes Haar über weißem Wasser, Haar über sommerweißem See, Satz, der forscht, Satz, der ein Leben vermisst, Wasser zugießt in einen See, ein Stück Leben am See in ein Licht taucht, der ein kleines Stück Leben verbreitert in der Betrachtung des Gewesenen, Niemandsland, erdachter Besitz, grünender Wald auf gleißenden Hügeln, nicht mit Schritten zu erreichendes, nicht auszumessendes Gelände, Ufer, das forttreibt, Leben, das atmet in einer Verhängung, Auffächerung, die erlischt in der Dämmerung, nicht geschenktes, nicht in das Licht getretenes Leben, das unter Lidern, Bettdecken keimt, nicht erhaltene Fülle in der Vertiefung des erhaltenen Wenigen, Satz, der sammelt, wallender See, schwarzes Haar über welligem Wasser, Wade unter flatterndem Kleid, Satz, Schatten im Weiß der Vorhänge, eingefügt in das Weiß der Vorhänge, Schatten, geschnitten in helle Zimmer, über glänzendes Wasser gebogenes, Wasser atmendes Firmament, schwarzhaarig an nasser Luft, Frühling, weich und weiß über schleimnasse Mauern gebreitet, glühende Wange an blühender Zeit, Zehen im Kies, bitterer Sud auf lachender Zunge, Auge wandernd im Blütental, in ein hell gewesenes Leben gerichteter Blick am Morgen, am Abend, in der Nacht…
Copyright © Stefan Zeiler