Körper der Erinnerung
Essay
Jahrbuch für Lebensphilosophie 2006
Albunea Verlag München
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Die Ruine ironisiert den Höhlen- und Hüllencharakter des Körpers, weil sie nur noch hohler Raum ist, offen, ohne Innenleben. Niemand geht mehr ein und aus, kein Geplauder mehr am Gang, kein Gezanke mehr im Zimmer. Die Gemächer hungern nicht mehr nach Exzess und Langeweile, die Verließe nicht nach Gefangenen. Stoffwechsel findet keiner mehr statt. Die baulichen Ordnungen werden verschliffen, überwältigt von der Schwerkraft und vom Zufall des Verfalls: dieser schafft eine neue, subtile und, im Vergleich, stabilere Ordnung, die ganz absichtslos gedeiht, weil sie den Schaden nicht Fehler nennt. Ihre Formen atmen freier, ihre Umrisse bewegen sich, sie zeigt den Weg vom Gewinn zum Verlust auf, vom großen Plan zum Erlöschen der Antriebe. Darin gleicht sie einem Rad, das eine starre Strecke abrollt, und darum entspannt sich der Blick vor Ruinen, unwichtig, wie gut erhalten, erhaben oder zerschlagen sie sind. Unscharf in ihren Konturen bilden sie schärfer die Kurve des Lebens ab, weil sie kein Ergebnis fordern, das seine eigene Fortdauer festschreibt und sich so gegen Veränderung stemmt. Sie haben schon der Natur nachgegeben und können als Kunstwerke nicht mehr bestehen und daher als Kunst nicht scheitern. Sie bezeugen ja das Scheitern und befreien damit von der Forderung nach Symmetrie, Gleichmaß und Vollkommenheit. Und doch sind in den welken Resten immer noch die Tensionen zu spüren, die einstige Anatomie noch zu ahnen, die das Bauwerk mächtig, vielleicht uneinnehmbar wirken ließ. Tempel, Thermen, Nekropolen, das Sakrale nimmt die Aura des Profanen an und umgekehrt, Mauerreste werden für die Nachwelt zu Trophäen introspektiver Sehnsucht, manche wecken märchenhafte Kindheitserinnerungen. Was wir an uns selber nicht verstehen: dass der Körper schwindet, auch wenn sich die Seele sträubt und der Geist nach Unvergänglichkeit und Absolutheit strebt, das romantisieren die Ruinen, weil sie doch bestehen, obgleich sie Trümmer sind. Muskulatur in Stein wirken die Granitmyzele von Mykene und Hattusa bis hinein in unser Dasein, unser körperliches Fühlen, unser stetes banges Ringen um Erhalt der Körperkräfte: um im sanften Schwung der Hügel unverrückbar dazustehen als der dauerhaftere Körper.
Vor den verdrehten Mauern der Grabmäler, vor den Rümpfen und Torsi der Thermen, der Arenen und Opferstätten rekonstruieren wir das Leben, den Trubel, der sie früher umgab. Wir ergänzen die fehlenden Glieder, imaginieren eine Bewegung, leben Aufstieg und Untergang nach, als ob wir unseren eigenen meinten. Ziellos streunenden Hunden gleich spüren wir einem verschwundenen Leben nach, dessen schattenhafte Konturen wir in den einstigen Straßen und Plätzen und Latrinenmulden wittern. Wir begegnen bekannten Gerüchen, dem Gestank des Hier und Heute. Hinter uns zerreißt das Leben und die Fahne, die wir halten und tapfer für unsere Gegenwart halten, wird an ihren Enden zerschlissen vom Zyklon der sich drehenden Zeit. Sie ist es, die sich bewegt, nicht wir, sagt die Ruine, und sie flüstert: eure Körper sind ein Rauch, um nichts weniger gestaltlos und beliebig wie die Krümmung eines Hügels, eines Astes, eines Büffelhorns. In der Ruine spiegeln sich die Türme und Wälle und Burgen der Wolken und das aufgewühlte Meer. Dieser dauernde Mangel an Dauer stillt nicht unser Verlangen nach Form, Umriss, scharf gezogenen Grenzen. Aber er glättet unsere Unruhe, kühlt ein wenig unsere Gier. In den Gebirgen und Tälern der Mauern bewegt sich der Blick wie rinnendes Wasser und vollzieht die Unregelmäßigkeiten einer schaukelnden Topographie nach. Schwerelos turnt der Körper über die verstreuten Brocken. Wir verstehen, dass die Wasserspeier, die Fensterläden oder die Firstziegel aus Terrakotta nur Blattwerk, flatternde Haare im Wind waren, die eine Struktur umspielten, die in den Grundzügen klarer vor uns liegt als im verputzten, bekleideten Zustand. Die Fassade hat den Blick auf das Fundament verstellt. Das Skelett der Architektur tritt erst im Verfall zutage und wir erschrecken – ob seiner Einsilbigkeit, seiner immer gleichen, immer sich neu wiederholenden Normen: rechte Winkel, plane Flächen, aufeinander geschichtete Steine, Ziegel in immer den gleichen und bleichen Farben, und selbst wenn es Tempel sind, es sind Waagrechte, Senkrechte, müde nach unten fallende Rundungen oder apathisch aufragende Stümpfe. Das in Besitz nehmende Greifen der Baukörper nach dem ungestalten Naturboden, ohne schmückendem Überbau.
Aber auch das Durcheinander, die kompliziert gebrochenen Schäfte der Säulen, ihre diagonalen Schnitte, Reihungen und Überscheidungen ordnen sich zu Gleichförmigkeit. Wir hören das Krachen stürzender Bauteile, wir spüren die Unruhe des Erdbodens, seine Unverlässlichkeit. Das alles kennen wir, und es ist uns auf peinvolle Weise näher als die Beweglichkeit fliegender Vögel oder üppig sprießender Bäume. Deren gieriges Saugen von Raum deuten wir lieber als Ausgelassenheit und übersehen dabei gern den ständigen Kampf um die freien Plätze, um das Territorium. Mehr als Felsen oder Vegetation oder Wasser verdeutlicht die Landschaft rudimentärer Architektur das Spannungsverhältnis von Leib und Zeit, von Selbst und gelöschter Erinnerung und befriedigt nebenbei unsere anatomische Neugier. Vor den Resten der Antike macht der Körper Inventur. Wir erkennen unser Stehen, unser Sitzen, unser Ruhen und Atmen-Müssen wieder in kräftelogischen Ordnungen, auch wenn diese eingebrochen und nur mit Mühe noch zu erkennen sind. Der flatternde Rhythmus umgefallener, in einzelne Trommeln zerfallener Säulen führt uns den eigenen Herzschlag vor, wenn er durcheinander gerät und wir unserer Rippen gewahr werden (die ja die Organe schützen wie der Säulenumgang die Cella).
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Copyright © Stefan Zeiler