Die Zähne des Saturn
Kurzgeschichte
Komm in den Park und schau. E-Book Anthologie
Almut Grolitsch Literaturverlag 2011
Synopsis
Ein Steinmetzstudent an einer Fachhochschule entzieht sich nach und nach dem Einfluss seines Kunstgeschichtsprofessors.
(…)
In schönster Exerziermanier, die ja immer auch als Darbietung gedacht ist für die Satten, Sanften, Saturierten, die im Notfall die Geübten, Kräftigeren kämpfen lassen für das Sattsein, für das Sanftsein, für Kultur als mäandernde, natürliche Idee, befestigt durch das Lot und die Wasserwaage – Martin wusste nicht mehr, ob er selber etwas dachte oder ob Gonella sprach – , fraß sich der Jogger durch den Vorrat seiner Kräfte und zog weiter seine Kreise, die die Kreise aller waren, wenn auch nicht so insistent und unter Anstrengung gezogene.
Er habe doch von Anfang an vorhergesehen, dass, bei seiner Trägheit, seinem fehlenden Elan, ein Thema außerhalb von Bayern ihn ja überfordern “müsse“. Aber München, so Gonella, habe auch etwas zu bieten. Nicht nur neunzehntes Jahrhundert, auch den Nymphenburger Park! Schaue er sich Boos an, Marchiori, Volpini, die Skulpturen im Parterre, wenn er sich schon an das Zweit- und Drittrangige halten wolle. Der sein Kind verschlingende Saturn von Marchiori lasse sich vielleicht mit Frankreich siebzehnhundertvierundneunzig in Verbindung bringen, die Tugend und der Terror, das nimmersatte Paar, eine Ehe der Vernunft. Doch die Göttin der Vernunft schläft den Schlaf der Vernunft, und gebiert Ungeheuer. Übrigens habe Schadow die Prinzessin Friederike vierundneunzig porträtiert, in Gips, nach dem Leben. In einer Kopfhaltung die Epoche eingefangen. Ungestillten Lebenshunger. Darum blickt sie so zu Boden. Weil sie in die Zukunft schaut! Illegitimer Nachwuchs, dann nach Ansbach verbannt. Ja Ansbach und die Kinder! Nun, so ist das eben, wenn ein tugendhafter Mann regiert. Wenn es auch nicht Terror ist, so ist es doch Ordnungssinn. “Sparsamkeit, Ordnungssinn“, “Dazu brauchen Sie nicht Tieck, das finden Sie bei Boos auch. Mittelmaß. Professur. Schauerliches Ende und Bedeutungslosigkeit“, “ D a s interessiert dich doch in Wahrheit, nicht die Kunst!“ Als Gonella dieses erste Du ihm hingeworfen hatte, mit Verachtung und im Strahl eines harten schmalen Blicks durch die stets verschmierte Brille, brach der Stift in der Hand des aufgewühlten Lehrers, der währenddessen grob ein Hörnerkapitell skizzierte, infolge des zu ungestümen Drucks auf die Spitze ab.
Unter dem Saturn von Marchiori sah Martin seine Schulkollegen Christopher und Albin neben Hellweg stehen, dem Leiter und Betreiber der Erweiterung der Steinwerkstatt, und hinter Hellweg stand Gonella, der seine Brille mit einer offensichtlich schon benützten Serviette aus dem Schlosscafé zu reinigen versuchte. Beamte der Verwaltung und des Staatlichen Bauamts sowie Zimmerer, Nageltaschen an den Gürteln und die Hämmer in den Händen, standen ebenfalls herum. Einer der Zimmerer wandte sich an Hellweg. Martin, der sich nicht für eine Stelle in der Steinwerkstatt beworben hatte, nichts von dem Treffen wusste, gesellte sich dazu. Niemand nahm von ihm Notiz.
Nein, es sei noch nichts entschieden, sagte Hellweg, angesichts der Schäden aber sei eine Verschalung jedenfalls aus seiner Sicht hinfällig und, indem er sich nun an die staatlichen Beamten wandte, eine Auslagerung der Skulpturen zwingend nötig. Kompressen, Wässerungen, was habe das gebracht. Und zu einer Imprägnierung könne er schon gar nicht raten. Nein, er halte nichts von Kopien wie in Sanssouci. Darum habe er vor Jahren schon für Abgüsse plädiert. Jetzt sei es fast zu spät, wichtige Details ruiniert, zerfressen von der Säure. Er deutete mit einem Stift auf die Zähne des Saturn. Zu spät sei es aber, wenn man ehrlich sei, immer und die einzig sichere Verwahrung sei der temperierte Keller oder eben das Museum. Gonella setzte sich die von der schmutzigen Serviette nur noch mehr und nun endgültig verunreinigte Brille auf und starrte auf den Knaben, dem Saturn das Rückgrat brach, um ihn zu verschlingen. Die Natur des Menschen sei nicht für die Kunst geschaffen, fuhr Hellweg bitter fort, er gehe mit der Kunst nämlich um wie mit Natur. Er zerstöre beides nur. Dabei sei die Kunst doch das KERNGEHÄUSE der Natur, die Natur ein KIND der Kunst, eine Frucht, die mit VERSTAND nur zu öffnen, zu genießen sei, und er ließ traurig seinen Blick über den Garten schweifen, dem die Broderien, die Bosquette und viele der Figuren fehlten, die ihn einst zu einem festlicheren Abbild der Verstandes machten, und der göttlichen Vernunft, „denen sich die Menschen damals alle unterworfen sahen“. Dann ging er zur Statue der Kybele hinüber, einem zahnlosen, alten Weib, “phrygische Erdgöttin, später Rhea gleichgestellt”, und wies auf den miserablen Zustand ihrer Falten hin, am Hals und im Gesicht. Und Gonella dachte, Rhea, Rhea, das ist doch die Frau des Kronos, also römisch des Saturn, die eines ihrer Kinder vor dem Vater retten konnte, indem sie es versteckte und dem Gott stattdessen einen STEIN in Windeln reichte, den dieser wirklich für sein Kind hielt und sogleich verschlang wie alle seine Kinder, und er sah in Martins Richtung, aber wie durch ihn hindurch, als könne er nicht klar erkennen, ob da ein Beamter stehe oder eine weitere schadhafte Skulptur.
Martin sah die Marmorgötter schmelzen wie Reste schmutzigen Schnees. Dann sah er die Braut, weiß und herrlich, auf der Treppe, und dass sie angstvoll und doch ruhig in den Himmel blickte, wo sich hohe Wolkentürme zu einer steingrauen, schattenhaften Wand verbanden. In der Ferne trat der Jogger in sein unsichtbares Rad, Schweißtropfen fielen schütter neben ihn in den Kies. Der Bräutigam verschlang ein Brötchen, das man ihm, um irgendein Tablett zu leeren, hastig reichte. Kurz darauf begann es zu donnern und zu blitzen und ein Regen hart wie Reis ging auf Schloss und Garten nieder.
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Copyright © Stefan Zeiler