SUMER. Befragung eines Unschuldigen
Surreales Gerichtsstück
(frei zur UA, Rechte beim Autor)
Besetzung:
1 D, 4 H oder D
2 Dekorationen
Synopsis
In einer irrealen, todesnahen Situation sieht ein Mann sich einem Gericht gegenüber, dem er eine Schuld bekennen soll und auch will. Welcher Tat er schuldig sein soll, ist ihm jedoch unklar. Obwohl der Mann bereit ist, Schwächen und Verfehlungen einzugestehen, weigert er sich doch Verantwortung zu übernehmen. Er führt aus, dass die Erziehung des strengen Vaters und besonders dessen Deutung der Geschichte für sein Leben prägend waren, ebenso wie der Garten, den der Vater angelegt hat, der für den Mann ein Ort des Rückzugs, der Erholung, aber auch der seelischen Verrohung und der Isolation war. Auch als der Mann bekennt, dass er die Zerstörung des Gartens nicht verhindert hat, spricht er sich frei von Schuld und ruft als Zeugin die geheimnisvolle Dichter-Priesterin Enheduanna auf, die den Untergang des Landes Sumer beklagt. Sumer ist das Land, das der Vater für die Wiege der abendländischen Geschichte gehalten hat.
Zweiter Akt
(...) Zweite Befragung RICHTER Wie Sie wissen, geht es hier um Ihre individuelle Schuld, die Sie ja erkennen und benennen und bekennen möchten. Deshalb sind Sie schließlich hier. Hatten Sie als Kind denn die Empfindung einer Schuld? Es kann ja wohl nicht sein, dass Sie sich als Kind nicht einer kleineren Verfehlung, einer Unart, eines kleinen oder größeren Vergehens schuldig gemacht haben. Jedes Kind lädt Schuld auf sich. Können Sie den Zeitpunkt nennen, als Sie zu dem Schluss kamen, dass Sie frei von Schuld wären? BEKENNER Ich erinnere ein von Furchen und Schrammen und Abnützungsspuren verletztes Parkett. Auf dem Parkett erheben sich Stühle, eine Couch, ein Klavier. Ich bin vom Licht beeindruckt, von den Händen, die mich, wenn ich lache oder wenn ich weine, hochnehmen. RICHTER Die Hände ihrer Mutter … BEKENNER Es kann sein, dass, wenn ich schrie, die Hände aus dem Fenster flogen und dann oft für lange Zeit nicht zu mir zurückkehrten. Ich vermute, dass ich nicht immer zum geeignetsten Zeitpunkt schrie. Auch zerriss ich früh schon Tücher. Schleuderte sicherlich Teller zu Boden. Ich war ungerecht und wild. ZWEITER BEISITZENDER RICHTER Wenn man Sie gefüttert hat, wie benahmen Sie sich da? Nahmen Sie das Essen auf oder spien Sie es aus? BEKENNER Ich weiß, dass ein Unterschied mich pausenlos beschäftigte. RICHTER Was denn für ein Unterschied? BEKENNER Der von Oben und von Unten. Und auch der von Nah und Fern. Denn die Welt hatte Schichten, ja sie war in Streifen der Erreichbarkeit geteilt. Ich war klein und nahm natürlich nur an kleinen Dingen teil. Aber ich war unruhig. Es gab nicht nur zwei Bereiche, obwohl ich von zweien ausging, einer zweigeteilten Welt, denn das, was mir nicht bekannt war, das Verschleierte und Komplizierte, die Bewegung auf der Straße, wo die Menschen hingingen und woher die Menschen kamen, das war keine stockwerkartig in sich abgestufte Welt, sondern ein schlingernder, dröhnender Ring, der mich wie eine Verhöhnung umgab. Ich verglich die Bäume und die Wolken und die Gräser mit den Häusern und den Türmen und den Menschen in der Stadt. Einmal wurde Fleisch gekauft. Ich verglich das Rucken des Zeigers der Fleischwaage mit dem Nicken der Mutter und ihr Schluchzen mit dem Schleifen dieses unverständlich langen Messers. So wurde der Ring enger und enger, immer näher rückte die Welt, immer heißer wurde ihr Atem, bis mich eine Hitze erfasste, die ich bis dahin nur von bedrohlichen Situationen, etwa wenn ein Hund bellt, kannte, und ich mich im Ring befand, also nicht mehr in der Mitte, wo ich am Geschiebe und Gezerre noch nicht teilgenommen hatte. Jetzt schob mich der Ring wie ein ungeheurer Mühlstein weiter, schob mich aus dem Unverstand in die Zone des Verstandes. So bekam ich den Verstand. Das war fürchterlich für mich. Ich sehnte mich zurück in das schwerelose Leben, in das nur Vorhandensein. Ich wollte mich nicht erweitern. Ich wollte nichts verstehen. Ich wollte die Mitte einer gelben Blume sein. In ein still begrenztes Blickfeld wieder zurück verschoben zu werden, schien mir das einzig vernünftige Ziel. RICHTER Sie sprechen hier von ganz bestimmten Schwierigkeiten, die die Jugend oder auch die späte Kindheit mit sich bringen. Bleiben wir bei ihrer frühen, denn um die geht es vor allem. Die wollen wir verstehen, und wie es so früh schon zum Verlust der Schuldvorstellung kommen konnte, oder, falls das eher zutrifft, warum Sie womöglich keine ausgebildet haben, wo Sie doch Verstand hatten, wie Sie selbst gerade sagten. Wenn ich richtig informiert bin, war Ihnen die längste Zeit ja der Begriff der Schuld unklar. blättert in den Akten BEKENNER Sie sind mit mir sehr geduldig. (...) BEKENNER Wie ich schon erwähnt habe, machte die Natur auf mich einen äußerst starken Eindruck. Und vor allem unser Garten, zu dem ich mich wie zu einem Wasser hingezogen fühlte. Wie soll ich ihn beschreiben, ein Teppich aus Ästen und Steinen und Wolken und blitzendem Gras und summenden Licht, dieser Garten war der Grat, auf dem ich mich bewegte, schon als allerkleinstes Kind, auf dem ich balancierte, über meinen Abgrund schwebte und auf dem sich mein Narzissmus wie ein Gleichgewichtsorgan, das nur auf den Fortbestand der Eigeninstabilität dressiert war, jedenfalls sehr gut bewährte. Ich empfand mein ganzes Leben ja als einen Drahtseilakt, zu dem ich nichts weiter beizutragen hatte, als das Seil nicht zu verlassen. Auf dem Seil gibt es die Frage einer Schuld und einer Einsicht in die Schuld schon gar nicht. Auf dem Seil zählt nur eines, dass die Stange sich nicht senkt, dass es in der Schwebe bleibt, ob man Schuld hat oder nicht, ob man lebt oder nicht, Freude hat oder nicht, leidet oder nicht leidet. Man denkt auch nicht an ein Ende, denn zu denken wagt man nicht. Man hat keinen festen Stand. Es gibt keine Reflexion, wenn der Weg, den man beschreitet, kein Stehenbleiben, Ausruhen oder sich auf Abwege Begeben zulässt. Solange man sich auf dem Seil bewegt, zwischen Himmel und Erde schwebt, geht man nur sich selbst entgegen und erlebt sich nicht als schuldig. Man kann nicht nach vorne denken. Man will sich nicht erinnern. Man ist da vom Tod umzingelt. Ein kleiner falscher Schritt und man wird von ihm gewogen. Ob man schwer ist oder leicht ist, diese Frage stellt sich aber während der Bewährung nicht. Man wird auch vom Seil getragen. Manchmal ist es auch kein Seil, sondern eine breite Brücke, eine Landschaft, eine Stadt, eine Firma, eine Formel oder der von dunklem Flaum bedeckte Nacken einer Frau. Ich war nur ein Passagier, ja, ich saß auf einem Adler, der schon wusste, was er tat. Rückblickend muss ich sagen, dass ich es doch sehr bedaure, so gelebt haben zu müssen, ohne einer schönen Phase, ohne Pause, ohne Frohsinn. RICHTER Sie erkennen, dass Sie sich mit ihrer absoluten Lebenshaltung, die eine des Selbstverzehrs, Selbsthasses, der Verachtung aller Dinge, aller Menschen sein musste, sein wollte, selber in Bedrängnis brachten? BEKENNER Ja, nur dass das Bild des Gartens, wie ich es beschrieben habe, als ein himmlisches Gefängnis, dem der Stadt genau entsprach. Stadt und Garten waren für mich Orte der Vermehrung und des grenzenlosen Wachstums. Ich erkannte damals nicht den kleinen feinen Unterschied, denn ich war damit beschäftigt, mich der Dinge zu erwehren. ZWEITER BEISITZENDER RICHTER lauernd Kam Ihnen die Stadt mehr entgegen als der Garten? BEKENNER In der Stadt war man gefangen und die Stadt stand für das, was man in der Schule lernte. Die Maschinen, Zeitungen, die Garagen, die Geschäfte, dieser unstillbare Hunger nach fortwährender Bewegung sättigte andere ebenso wie mich der Garten glücklicher machte. Ich erkannte Parallelen. Ich sah mich als Teil nur eines allgemeinen Untergangs. Oder, um es so zu sagen, es war eigentlich nicht möglich, nicht den Irrweg einzuschlagen. Das war das Erwachsensein. Dafür stand die ganze Welt. Wessen war ich schuldig dann? Dass ich mich, so gut es ging, der Ausdehnung verweigerte? Der Verwilderung? Dem Wachstum? Dass ich mir ein Paradies aus Gras und Brüsten und blutigen Sonnen und irrealen Gefahren zusammentrug? Dass mein Rücken brennen wollte? Oder dass ich notgedrungen mit der Gegenwart kooperierte? Dass ich mit Autos und U-Bahnen fuhr? Dass ich Eisenbahnen benutzte? Einmal mit dem Flugzeug flog? RICHTER scharf Sie sind auf der Suche nach der Schuld in I h r e m Leben, nicht danach, wofür die Menschen allgemein verantwortlich zu machen sein werden eines Tages oder nicht. Der Bekenner denkt nach. ZWEITER BEISITZENDER RICHTER Langsam kommt mir der Verdacht, dass Sie Fortschritt und Entwicklung grundsätzlich für etwas Böses und die Menschen insgesamt für geborene Verbrecher halten! ERSTER BEISITZENDER RICHTER Nur sich selbst natürlich nicht! ZWEITER BEISITZENDER RICHTER Ihr Gewissen ist von Ironie und Selbstmitleid überwuchert. BEKENNER Stehen denn die Schienenstränge meiner Tagesphantasie nicht für jene Ironie der alltäglichen Verletzung? Ist nicht Selbstverstümmelung Ziel der Zivilisation? RICHTER scharf Wäre dem so, hätten Sie die Pflicht sich zu erheben, auf den Missstand hinzuweisen und d i e Menschen anzuklagen, die den Fortschritt propagieren. Haben Sie das je getan? BEKENNER Das kam mir nicht in den Sinn. Ich bin ja ein Teil der Schwäche. RICHTER Klagen Sie sich selber an? BEKENNER Meiner Artgenossenschaft? ERSTER BEISITZENDER RICHTER Keiner Sünde? RICHTER Keiner Untat? ZWEITER BEISITZENDER RICHTER Keiner kriminellen Handlung? BEKENNER nach einer Pause, zögernd Ich verlasse mich darauf, dass mein Denken mich begleitet wie der Hund einen Jäger, der die Beute apportiert. Aber es gibt keine Beute. Ich erkenne keine Ziele. Ich vermisse sie auch nicht. Da ist immer dieser Sturz, den ich zu vermeiden trachte, den ich aber nicht vermeiden kann… ZWEITER BEISITZENDER RICHTER Vielleicht weil Sie zuviel denken! BEKENNER …weil die Gefahr eben eine ständige, eine unüberwindliche ist. (...) Copyright © Stefan Zeiler